Künstliche Intelligenz verändert die Welt und auch im Profifußball kommt sie immer häufiger zum Einsatz, insbesondere im Scouting junger Talente. Welches Potenzial birgt die Technologie? Wie funktioniert sie? Ist das Zukunftsmusik – oder wird die Talentsuche revolutioniert? 

Am Ende war es Mathematik – und die Rechnung ist aufgegangen. Um das kriselnde Baseball-Team der Oakland Athletics wieder auf Kurs zu bringen, setzte Manager Billy Beane auf die Dienste des jungen Yale-Absolventen Peter Brand. Die Idee: Statt über das klassische Scouting-Verfahren sollte der Computer-Nerd und Baseball-Fan das Team mit Hilfe eines computerbasierten Statistikverfahrens zusammenstellen. Der Plan funktionierte. Nach Startschwierigkeiten legten die Athletics eine Serie von 20 Siegen hin. Ein Rekord in der 116-jährigen Geschichte der American League. 

Die Geschichte der Oakland Athletics verfing so sehr, dass sie Hollywood 2011 unter dem Titel „Moneyball“ verfilmte. Doch was vor 13 Jahren als Stoff für Blockbuster diente, ist heute längst Alltag geworden. Zu verdanken ist das einer Technologie, die gerade die Welt verändert: Künstliche Intelligenz. Dank ihr sind computerbasierte Statistikverfahren, wie sie die Athletics Anfang der 2000er-Jahre fürs Scouting einsetzten, heute in endlosen Abwandlungen verfügbar – und für jeden zugänglich. Die Wirtschaft hat das Potenzial bereits erkannt: Jedes zweite Unternehmen setzt KI heute ein, wie eine aktuelle, in unserem Auftrag durchgeführte Umfrage des ergeben hat.

KI als Übersetzer

Aber nicht nur in der Wirtschaft, auch im Profifußball spielt Künstliche Intelligenz eine Rolle. Denn immer dann, wenn es darum geht, große Datenmengen in kürzester Zeit zu verarbeiten und daraus Schlüsse zu ziehen, ist KI eine Hilfe. Und Daten liefert der Fußball eine Menge. Wie oft schießt ein Team aufs Tor? Wie hoch ist der Anteil am Ballbesitz? Wie viele Pässe werden gespielt? Und wie viele davon landen beim Gegner? Über all das und noch viel mehr gibt es Erhebungen.

Derartige Daten geben jedoch nicht nur Auskunft über ein Fußballspiel. Sie verraten auch eine Menge über die Protagonisten auf dem Feld. Wie hoch ist die Passquote eines Spielers? Wie gut sein Zweikampfverhalten? Wie viele Kilometer legt er zurück? Wie viele davon im Sprint? Diese Erkenntnisse übereinandergelegt zeichnen ein exaktes Bild von der Leistungsfähigkeit eines Profis. Und KI hilft dabei, die Fülle an Daten in relevante Informationen zu übersetzen. Damit kann sie Vereinen im Scouting einen echten Wettbewerbsvorteil verschaffen, weil sie exakte und rationale Informationen darüber liefert, wie gut ein Spieler wirklich ist und ob er ins Team passt.

Bewertung auf der Basis von Daten

Es klingt wie die Vermessung der Bundesliga. Aber hat KI wirklich die Kraft, das Scouting zu revolutionieren? Ja, sagt Tim Schröder. „Die Zukunft lässt sich nicht aufhalten.“ Schröder ist Produktentwickler bei der Fußball-Plattform Plaier und als solcher an der Entwicklung dieser Zukunft maßgeblich beteiligt. Plaier ist englisch und bedeutet Spieler. Das „ai“ in der Mitte ist kein Fehler, sondern steht für Artificial Intelligence: Künstliche Intelligenz, die bei dieser Lösung für Fußballklubs eine entscheidende Rolle spielt. „Wer mit Plaier arbeitet, muss bei Transfers nie wieder allein auf die Fähigkeit der eigenen Scouts bauen“ sagt Schröder dem SPIEGEL.

Die Aufgabe der KI besteht darin, Fußballer ausschließlich auf Basis von Daten zu bewerten: Jeder Zweikampf, jedes Abspiel, jeder Kopfball – jede Aktion auf dem Platz fließt in die Bewertung ein. Ein „Score“ gibt Auskunft darüber, wie gut ein Spieler im weltweiten Vergleich ist. Auch ein entsprechender Marktwert wird ausgerechnet. Dazu könne die KI zur Analyse des Kaders eingesetzt werden, erklärt Schröder. Sie finde Schwachstellen und gebe Empfehlungen, mit welchem Spieler sie zu schließen sind. 

Die Daten, die als Basis dafür dienen, kauft Plaier auf der ganzen Welt ein. Sie sind das Futter für die KI, die vorher gelernt hat, dass ein Pass zum Mitspieler besser ist als einer zum Gegner oder ein Tor mehr Wert ist als ein Fehlschuss. Auf Grundlage dessen erkennt die Technologie, wie gut ein Spieler performt. Sie vergleicht ihn mit anderen Fußballern, die auf derselben Position spielen, trifft Aussagen über seine Entwicklung und erstellt Prognosen, wie viel Potenzial noch in ihm schlummert. Alles das hilft Klubs dabei zu entscheiden, ob es sich lohnt, einen Spieler zu verpflichten.

Keine Chance ohne Risiko

Dass die Technologie Transferentscheidungen trifft, sieht Schröder nicht. „Menschen brauchen Menschen als Bezugspartner“, meint er, „die Technik ist nur ein Hilfsmittel.“ Diese Meinung ist auch am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig verbreitet. Hier wird KI vor allem in der Biomechanik eingesetzt. „KI ist in unserem Bereich kein Risiko, sondern die Chance, in kürzerer Zeit mehr Daten zu generieren“, erklärt Björn Mäurer, wissenschaftlicher IAT-Mitarbeiter Sportinformatik, der Sportschau. Gefahr bestehe nur dann, wenn man der Technologie eigenständige Entscheidungen überlasse. Würde man etwa dem Computer die Technikbewertung in Sportarten wie dem Geräteturnen überlassen, „könnte über die Software durchaus manipuliert werden – und zwar nicht sportlich, sondern technologisch.“

Diese Gefahr sieht auch Norman Mauer, KI-Experte bei Indeed. Er beschäftigt sich zwar nicht im sportlichen, dafür aber im wirtschaftlichen Kontext mit KI – speziell im Recruiting, dem Business-Pendant zum Scouting im Fußball. Auch hier spielt die Qualität der Personalentscheidungen eine wichtige Rolle. Gerade in Zeiten des Arbeitskräftemangels. Die Technologie wird hier zum Hilfsmittel. Das hat auch die KI-Studie von Indeed gezeigt. Fast jede*r zehnte Unternehmensentscheider*inn traut der KI bessere Personalentscheidungen zu als dem Menschen. Zudem ist auf Seiten der Arbeitgeber jede*r Vierte der Meinung, dass KI die Personalauswahl gerechter macht. Unter Angestellten ist es fast jede*r Fünfte. Auf der anderen Seite haben jedoch auch 43 Prozent noch nie davon gehört, dass KI bestimmte Personengruppen benachteiligen könnte. Seitens der Arbeitgeber sind es 41 Prozent der Befragten. 

Kolo Muani wäre der KI wohl durchgerutscht

„Das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns bei KI bewegen”, sagt Mauer. „Sie kann theoretisch objektivere Entscheidungen treffen, aber auch bestehende Vorurteile verstärken.” Die Ursache findet sich in den zugrundeliegenden Daten: Vorurteile bei Geschlecht oder Herkunft sind im Alltag und in Bewerbungsprozessen eindeutig dokumentiert. Weil KI mit jenen Daten der Vergangenheit trainiert wird, kann auch sie belastete Annahmen treffen – und Vorurteile sogar noch replizieren. „Dieser Problematik müssen wir uns bewusst sein und dagegen arbeiten”, sagt Mauer.

Bei Plaier haben Schröder und sein Team das bereits erkannt. Eine 100-prozentige Garantie für einen Transfererfolg geben sie nicht. Eines der prominentesten Beispiele hierfür ist Randal Kolo Muani. Der Franzose kam ablösefrei aus Nantes zur Eintracht – und wechselte im Sommer für eine Rekord-Ablöse von 95 Millionen Euro zu Paris St. Germain. Der Plaier-Software wäre Kolo Muani wohl durchgerutscht, weil er nach Jahren als Flügelstürmer plötzlich ins Sturmzentrum gerückt sei und dort den Durchbruch geschafft habe. „Solche späten Positionswechsel kann Plaier noch nicht erkennen”, gibt Schröder im Gespräch mit dem SPIEGEL zu. Seinen Kunden räumt das Start-up deshalb nur eine 90-prozentige Trefferwahrscheinlichkeit ein. Mit dieser Quote lässt sich arbeiten.