Die HDI Berufe-Studie 2022 lässt kaum Platz für Zweifel: Drei Viertel aller Beschäftigten in Deutschland plädieren für die Einführung der Vier-Tage-Woche in ihren Unternehmen. In der Industrie ist der Wunsch mit einem Anteil von 86 Prozent der Befragten besonders stark ausgeprägt. Hier würde jeder Vierte für ein verlängertes Wochenende sogar Lohneinbußen in Kauf nehmen, was branchenübergreifend nur für 14 Prozent der Erwerbstätigen gilt.
Arbeitgeber dagegen beäugen den Trend zur Arbeitszeitverkürzung bei vollem Gehalt mit deutlich mehr Skepsis. Sie leiden bereits genug unter dem allgegenwärtigen Fachkräftemangel und befürchten negative Auswirkungen auf Produktivität und Umsatz. Sind diese Sorgen berechtigt? Oder können auch Unternehmen von den Vorteilen der Vier-Tage-Woche profitieren?
Vier-Tage-Woche: Internationale Pilotprojekte mit vielversprechenden Ergebnissen
Der weltweit größte Testlauf zu den Auswirkungen der Vier-Tage-Woche begann 2015 in Island und umfasste mehr als ein Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung aus den verschiedensten Branchen. Die Auswertung des vierjährigen Pionierprojekts belegt, dass mit der Verkürzung der Arbeitszeiten keine Beeinträchtigung der Unternehmensleistung einhergeht. In vielen Fällen konnte sogar eine Steigerung der Produktivität festgestellt werden. Darüber hinaus verbesserten sich die Work-Life-Balance und das Wohlbefinden der Beschäftigten. Aufgrund des großen Erfolgs der Studie arbeiteten 2021 bereits 86 Prozent der isländischen Erwerbstätigen nach dem Vier-Tage-Modell oder hatten zumindest einen Anspruch darauf.
Zu ähnlich aussichtsreichen Ergebnissen kam Microsoft im Jahr 2019. Als das Unternehmen seine Mitarbeitenden am Standort Japan einen Monat lang bereits am Donnerstag ins Wochenende verabschiedete, erhöhte sich die durchschnittliche Leistung im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um knapp 40 Prozent. Begründet wurde dieser signifikante Anstieg mit einem reduzierten Energie- und Papierverbrauch sowie mit einer effizienteren Gestaltung der Arbeitsabläufe.
Im Laufe der letzten Jahre starteten in zahlreichen Ländern groß angelegte Pilotprojekte zur Vier-Tage-Woche, viele davon wissenschaftlich begleitet von der neuseeländischen Organisation 4 Day Week Global. Die Zwischenstände und finalen Auswertungen der weltweiten Feldversuche weisen allesamt in eine ähnliche Richtung: Die Vier-Tage-Woche wird als Erfolg bewertet und soll in den meisten Fällen auch nach der Testphase beibehalten werden.
Vier-Tage-Woche in Deutschland
Nach bundesweiten Pilotprojekten zum Thema Vier-Tage-Woche sucht man in Deutschland bisher vergeblich. Obwohl einzelne Unternehmen, darunter beispielsweise der Modekonzern Gerry Weber, den Schritt zur Verkürzung der Arbeitszeit wagen und dadurch viel Aufmerksamkeit in der Presse erhalten, ist das Konzept in der Praxis keineswegs so verbreitet, wie sich deutsche Arbeitnehmer*innen wünschen würden.
Laut einer Forsa-Umfrage wären 71 Prozent der Beschäftigten für einen zusätzlichen freien Tag pro Woche sogar bereit, an den übrigen Tagen länger zu arbeiten. Während in Belgien die Vier-Tage-Woche bei gleichbleibender Gesamtarbeitszeit bereits Realität ist, scheitern diesbezügliche Vorhaben hierzulande häufig am aktuell noch starren Arbeitszeitgesetz. § 3 ArbZG erlaubt prinzipiell zwar eine tägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden und wäre generell mit der Vier-Tage-Woche zu vereinbaren, aber bei Vollzeitbeschäftigung in Form von vier Tagen à zehn Stunden wäre jede Minute Mehrarbeit ein Verstoß gegen geltende Arbeitsschutzvorschriften. Das lässt viele Arbeitgeber vor einer Vier-Tage-Woche nach dem belgischen Modell zurückschrecken. Doch auch die radikale Verkürzung der Arbeitszeiten bei vollem Gehaltsausgleich löst Bedenken aus.
Vorteile der Vier-Tage-Woche vs. Fünf-Tage-Woche
Die Ergebnisse der internationalen Pilotprojekte können diese Befürchtungen allerdings entkräften und zeigen deutlich, dass Unternehmen in vielerlei Hinsicht von der Einführung der Vier-Tage-Woche profitieren.
Steigerung der Produktivität
Dass eine Verkürzung der Arbeitszeit nicht zwangsläufig zu Leistungseinbußen führt, verdeutlicht neben den aktuellen Pilotprojekten zur Vier-Tage-Woche auch ein Blick in die Vergangenheit. Seit dem Aus der Sechs-Tage-Woche im Jahr 1956 stieg das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland von ca. 101 Milliarden Euro auf rund 3.600 Milliarden Euro. Obwohl weniger gearbeitet wurde, wuchs die Wirtschaft weiter. Diese positiven Entwicklungen sind in erster Linie auf Effizienzsteigerungen durch technische Neuerungen zurückzuführen. Aber auch die Motivation der Mitarbeitenden spielt eine Rolle. Psychologische Studien belegen einen direkten Zusammenhang zwischen der Länge der Erholungsphasen und der individuellen Arbeitsleistung.
Höhere Attraktivität der Arbeitgeber
Aus einer Studie der Bertelsmann Stiftung geht hervor, dass Vollzeitbeschäftigte in Deutschland ihre tatsächlichen Arbeitszeiten gerne deutlich reduzieren würden. Vor allem junge Nachwuchstalente der Generation Z legen viel Wert auf eine flexible Gestaltung ihres beruflichen Alltags und eine ausgeglichene Work-Life-Balance. Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden diesbezügliche Freiräume gewähren, gelten als attraktive Arbeitgeber und können diesen Ruf gezielt für das Recruiting nutzen. Doch ein gelungenes Employer Branding bringt nicht nur Erfolge im Recruiting, sondern kann auch die Bindung der bestehenden Belegschaft fördern. Ausgeruhte Mitarbeiter*innen kommen in der Regel gerne zur Arbeit und verfügen über die nötige Energie, um sich engagiert für die Ziele ihrer Arbeitgeber einzusetzen.
Niedrigere Betriebskosten und weniger Ausfallzeiten
Falls das gesamte Unternehmen an einem zusätzlichen Werktag geschlossen bleibt, können sich aus der Vier-Tage-Woche signifikante Einsparpotenziale bei Strom- und Heizkosten ergeben. Die Ausgaben für Benzin und andere Transportmittel sinken selbst dann, wenn nicht alle Beschäftigten am gleichen Wochentag der Arbeit fernbleiben. Darüber hinaus konnte in vielen Studien zur Vier-Tage-Woche ein positiver Effekt der längeren Erholungszeiten auf die Gesundheit der Mitarbeitenden nachgewiesen werden. Mit der Arbeitsbelastung sinkt meist auch der Stresslevel. Krankheitsbedingte Ausfälle kommen seltener vor. Darüber hinaus können Arzt- und Behördentermine auf den freien Werktag gelegt werden und beeinträchtigen die Arbeitszeit weniger als bei der klassischen Fünf-Tage-Woche.
Herausforderungen bei Einführung der Vier-Tage-Woche
Trotz der vielen Vorteile eignen sich nicht alle Branchen uneingeschränkt für eine Umstellung von der Fünf- auf die Vier-Tage-Woche. Im sozialen Bereich und im Gesundheitswesen beispielsweise können Betriebe nicht einfach an drei Wochentagen schließen, indem sie während der verbleibenden Zeit besonders effizient arbeiten. Um den unveränderten Bedarf an sieben Tagen pro Woche zu decken, muss zusätzliches Personal eingestellt werden, was in Zeiten hoher Arbeitskräftenachfrage nicht nur eine Herausforderung darstellt, sondern auch mit steigenden Kosten verbunden ist.
Doch selbst in Branchen, die sich grundsätzlich für eine Vier-Tage-Woche eignen, sind Startschwierigkeiten nicht ausgeschlossen. Die Einführung muss gut geplant und umfassend vorbereitet werden. Mit einer bloßen Erhöhung der Arbeitsgeschwindigkeit, weniger Meetings und kürzeren Pausen ist es längst nicht getan. Bewährte Abläufe müssen überdacht und gegebenenfalls neu strukturiert werden. Ohne eine Anpassung der Rahmenbedingungen droht eine Arbeitsverdichtung und damit eine dauerhafte Überlastung der Beschäftigten. Dies wiederum kann zu vermehrten Ausfällen und einer höheren Fluktuation führen. Darüber hinaus werden Mitarbeitermoral und Jobzufriedenheit in Mitleidenschaft gezogen.
Vier-Tage-Woche erfolgreich umsetzen
Um die Risiken der Vier-Tage-Woche möglichst gering zu halten, sollten Unternehmen bei der Einführung mit Bedacht vorgehen. Am Anfang steht eine umfassende Analyse, ob sich die Geschäftsziele prinzipiell auch mit verkürzten Arbeitszeiten erreichen lassen und welches Modell sich am besten für den eigenen Betrieb eignet. Von der kompletten Schließung an einem bestimmten Werktag über versetzte Arbeitstage innerhalb der Belegschaft bis hin zur freiwilligen Vier-Tage-Woche auf Anfrage sind die verschiedensten Ansätze denkbar. Die einzig feste Grenze bilden die gesetzlich vorgeschriebenen Höchstarbeitszeiten.
Bei branchenspezifischen Bedenken lohnt sich darüber hinaus eine Recherche, ob in der Presse bereits von erfolgreichen Umsetzungsversuchen bei Wettbewerbern berichtet wurde. Auch die Bedürfnisse der Beschäftigten sollten bei der Einführung der Vier-Tage-Woche Berücksichtigung finden. Vielleicht bevorzugen die Mitarbeitenden andere flexible Arbeitszeitmodelle? Vielleicht ist der Wunsch nach einem zusätzlichen freien Tag so groß, dass dafür sogar Gehaltskürzungen akzeptiert würden?
Stößt die Vier-Tage-Woche in Mitarbeiterbefragungen auf positive Resonanz, gilt es in einem nächsten Schritt die optimalen Rahmenbedingungen für eine Verkürzung der Arbeitszeiten ohne Produktivitätseinbußen zu schaffen. Welche Stellschrauben können betätigt werden, um die Abläufe im Unternehmen zukünftig effizienter zu gestalten? Ist eine Automatisierung oder Digitalisierung einzelner Prozesse nötig? Können Aufgaben entsprechend der Mitarbeiterkompetenzen neu verteilt werden? Entspricht die Arbeitsplatzgestaltung den individuellen Anforderungen? Während manche Personen ungestört im Homeoffice Bestleistungen erbringen, brauchen andere den kreativen Austausch im Team, der trotz aller Effizienz nicht zu kurz kommen sollte.
Obwohl die Vier-Tage-Woche in Deutschland momentan noch eine Ausnahme darstellt, sollten sich innovative Arbeitgeber frühzeitig mit dem Modell und seinen Vor- und möglichen Nachteilen auseinandersetzen. Dabei muss die Vier-Tage-Woche nicht Ultima Ratio sein, sondern kann als eine von vielen individuellen Lösungen für eine flexible Arbeitszeitgestaltung angeboten werden. Ob Teilzeit, Gleitzeit, Arbeitszeitkonto oder verkürzte Arbeitswoche, das beste Modell ist das, das am besten zu den Unternehmenszielen und den Wünschen der Mitarbeitenden passt.