So groß war der Azubimangel noch nie: Auf der einen Seite blieben im Ausbildungsjahr 2021/2022 laut Arbeitsagentur 70.000 Lehrplätze unbesetzt. Auf der anderen Seite fanden 61.000 Bewerber*innen keine Stelle für ihre Berufsausbildung. Das war nach Angaben des Bundesinstituts für Berufsbildung das erste Mal, dass mehr Ausbildungsstellen offenblieben als Talente leer ausgingen. Um künftig wieder mehr potenzielle Lehrlinge und Ausbildungsbetriebe zusammenzubringen, arbeitet die Bundesregierung an einer „Ausbildungsgarantie“. Doch ohne ein Umdenken in den Unternehmen gehe es auch nicht, schreibt Dr. Annina Hering, Economist im Indeed Hiring Lab, im Indeed Ausbildungsreport 2023: „Es braucht mehr Offenheit für Hauptschulabsolvent*innen.“ Den Zahlen von Indeed nach gab es im Ausbildungsjahr 2022/2023 wieder mehr Chancen, mit Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
Mit Hauptschulabschluss gegen Azubimangel
Nach Erkenntnissen des Indeed Ausbildungsreports 2023 steht Menschen mit Real- oder (Fach-)Hochschulreife nach wie vor ein größeres Ausbildungsangebot offen als Hauptschulabsolvent*innen. Doch immer mehr Arbeitgeber scheinen zu erkennen, dass es sich lohnen kann, für Ausbildungsstellen Talente mit Hauptschulabschluss in Betracht zu ziehen. Denn in den 1,6 Millionen Stellenanzeigen für Auszubildende auf Indeed, die für den Report ausgewertet wurden, nannte ein größerer Anteil als im Vorjahr bei den Anforderungen einen Hauptschulabschluss.
Dieser Trend war vor und zu Beginn der Pandemie schon einmal deutlicher zu sehen. In den beiden Jahrgängen zwischen den Sommern 2019 und 2021 richteten sich auf Indeed sogar mehr Ausbildungsangebote an Hauptschulabsolvent*innen als an Abiturient*innen und Fachabiturient*innen.
Talente von der Hauptschule häufiger unter sich
Seit dem Ausbildungsjahr 2021/2022 ist das zwar wieder andersherum, aber mittelfristig scheinen mehr Unternehmen Hauptschulabschlüsse zu schätzen: 2022/2023 richteten sich 23,8 % der offenen Ausbildungsstellen auf Indeed an diese Bewerbergruppe. Das sind 2,6 Prozentpunkte mehr als 2018/2019.
Dabei wünschen sich viele Ausbildungsbetriebe explizit Azubis mit Hauptschulabschluss. Gestiegen ist nämlich nur der Anteil an Ausschreibungen, die ausschließlich diesen Bildungsgrad nennen. Und das so stark, dass dies den prozentualen Rückgang an Stellen überkompensierte, die zusätzlich anderen Talenten offenstanden. Hauptschulabsolvent*innen mussten also seltener mit formal Höherqualifizierten um denselben Ausbildungsplatz konkurrieren.
14,4 % der Ausbildungsplätze waren 2022/2023 ausschließlich mit Hauptschulabschluss zu haben, 18,6 % nur mit mittlerer Reife und 9,5 % nur mit Abitur bzw. Fachabitur. Rund ein Viertel aller Azubi-Stellenausschreibungen richteten sich an mehrere Abschlussgruppen.
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Ein Drittel der Ausbildungsplätze mit unklaren Anforderungen
In mehr als einem Drittel der Anzeigen für Ausbildungsplätze auf Indeed war hingegen gar kein Schulabschluss angegeben. „Das kann mehr Offenheit gegenüber niedrigeren Schulabschlüssen bedeuten, muss es aber nicht“, heißt es im Indeed Ausbildungsreport 2023.
Ob sich diese Zielgruppe aber wirklich angesprochen fühlt, sei zu bezweifeln: „Gerade für Jugendliche mit niedrigem Schulabschluss bleibt unklar, ob sie willkommen sind.“ Arbeitgeber könnten also davon profitieren, wenn sie den oder die gewünschten Schulabschlüsse nennen – um einen, um die Zweifel potenzieller Bewerber*innen auszuräumen. Zum anderen werden ihre Stellenanzeigen nur so gefunden, wenn Interessierte ihren Abschluss in der Suchanfrage verwenden.
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Größte Öffnung in Lebensmittelbranche und Einzelhandel
Die Öffnung der Berufsausbildung für niedrigere Schulabschlüsse zieht sich nicht durch alle Branchen gleichermaßen. Kaufmännische Ausbildungsstellen stehen weiterhin hauptsächlich Abiturient*innen und Fachabiturient*innen offen.
Am weitesten haben sich die Unternehmen insbesondere in Engpassberufen der Lebensmittelbranche und des Einzelhandels geöffnet. Handwerksbetriebe wie Bäckereien und Fleischereien haben 2022/2023 sowohl für Handwerks- als auch für Verkaufsausbildungen deutlich mehr Hauptschulabsolvent*innen angesprochen als 2018/2019.
Standen ihnen vor vier Jahren nur 26,2 % der Ausbildungsstellen für die Arbeit an Brot- oder Fleischtheken offen, waren es zuletzt fast doppelt so viele (49,4 %). Mehr Lehrstellen für Menschen mit Hauptschulabschluss gab es nur im Gerüstbau. Ebenfalls verdoppelt hat sich der Anteil an Ausbildungsangeboten für Hauptschulabsolvent*innen, die Kaufleute im Einzelhandel werden wollen, wenn auch auf niedrigerem Niveau.
Warum gerade diese Branchen sich öffnen? Vielleicht weil der Bedarf hier besonders hoch ist: Bei mehr als einem Fünftel aller Azubi-Stellenanzeigen auf Indeed ging es 2022/2023 um eine Ausbildung zu Kaufleuten im Einzelhandel (14,2 %) oder zu Verkäufer*innen (8,3 %).
Den mit einigem Abstand nächsthöchsten Azubibedarf gab es bei Kaufleuten für Büromanagement (5,4 %). Überhaupt fällt auf, dass vier kaufmännische Berufe in den Top Ten mit dem höchsten Azubibedarf sind. Auch Pflege- und Informatikberufe finden sich in dieser Liste.
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Abiturient*innen drängen in die Ausbildungsberufe
Dass Arbeitgeber grundsätzlich offener dafür sind, Menschen mit niedrigerem Schulabschluss auszubilden, führt jedoch bisher nicht dazu, dass dies auch geschieht. „Immer weniger Schulabgänger*innen mit Hauptschulabschluss gelingt die Aufnahme einer Ausbildung“, konstatiert der Monitor Ausbildungschancen 2023 der Bertelsmann Stiftung.
Ein Grund dafür könne darin liegen, dass der Anteil derer, die mit Abitur eine Ausbildung aufnehmen, von 35 % in den Jahren 2010 und 2011 auf 47,4 % im Jahr 2021 gestiegen ist. Und obwohl es weniger Hauptschulabgänger*innen gebe, sinke der Anteil derer, die eine Ausbildungsstelle antreten.
Die nächste Krise steht schon an
Der Beginn der Pandemie habe gezeigt, dass die Offenheit für niedrigere Bildungsabschlüsse in einer Krisensituation da ist, heißt es im Indeed Ausbildungsreport 2023. Doch mit dem Fachkräftemangel wachse die nächste Krise heran, nicht nur für den Arbeitsmarkt: „Mangelnde Chancen Jugendlicher haben einen hohen Preis: individuell, unternehmerisch und gesellschaftlich.“
2022 blieben laut Bundesarbeitsagentur 70.000 Stellen unbesetzt, in denen Fachkräfte von morgen ausgebildet werden sollten. Der sinkende Anteil junger Menschen in der deutschen Bevölkerung kann dies nur teilweise erklären, weil gleichzeitig 61.000 Bewerber*innen leer ausgingen. Laut Bundesinstitut für Berufsbildung blieben damit erstmals mehr Ausbildungsstellen offen als Talente übrig.
Die Bundesregierung will mit ihrer „Ausbildungsgarantie“ gegensteuern. Sie sieht beispielsweise vor, bei räumlicher Distanz zwischen Wohnort und Ausbildungsstätte einen Mobilitätszuschuss für Heimfahrten und Unterkunft zu gewähren. Das sei zu begrüßen, schreibt Indeed-Economist Dr. Anna Hering, aber es brauche noch mehr Offenheit für Hauptschulabsolvent*innen bei den Arbeitgebern.
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Mehr Offenheit gegen den Azubi-Mangel
Gründe dafür gäbe es: Laut einer Erhebung des ifo Instituts war Mitte 2022 fast die Hälfte aller Arbeitgeber in Deutschland von Fachkräftemangel betroffen: „Immer mehr Unternehmen müssen ihre Geschäfte einschränken, weil sie einfach nicht genug Personal finden“, sagte ifo-Arbeitsmarktexperte Stefan Sauer dazu. Der Druck steigt also, die betrieblichen Wachstumschancen mit einer offeneren Ausbildungspolitik in die eigenen Hände zu nehmen.
Insofern könne es sich für Arbeitgeber lohnen, die Anforderungsprofile für Auszubildende regelmäßig zu überprüfen und auch formal weniger qualifizierte Kandidat*innen kennenzulernen, ist dem Indeed Ausbildungsreport 2023 zu entnehmen: „Solange vorrangig Noten und Abschlüsse zählen, werden individuelle Kompetenzen und die persönliche Motivation zu häufig übersehen.“
Rechtlich spricht jedenfalls nichts dagegen, denn gesetzliche Mindestanforderungen an Auszubildende gibt es nicht. Zwar müssten Arbeitgeber mehr Geld und Zeit einplanen, um Talente mit fehlender Ausbildungsreife auszubilden. Doch diese Investitionen könnten sich auszahlen – „insbesondere, wenn die Alternative unbesetzte Ausbildungsstellen sind“.
Der vollständige Indeed Ausbildungsreport 2023 steht hier zum kostenfreien Download bereit.