Den Deutschen vergeht die Lust am Arbeiten. Laut einer vom Haftpflichtverband der Deutschen Industrie (HDI) beauftragten Umfrage würden 56 Prozent der Beschäftigten ihren Job unverzüglich an den Nagel hängen, wenn es ihnen finanziell möglich wäre. 48 Prozent würden beruflich gerne kürzertreten und in Teilzeit wechseln. Besonders Nachwuchskräften gefällt der Gedanke an eine arbeitsfreie Zukunft. Während 2020 noch 69 Prozent der unter 25-Jährigen ein Leben ohne Arbeit für unvorstellbar hielten, waren es 2022 nur noch 58 Prozent.
HDI-Deutschlandchef Christopher Lohmann begründet diesen Sinneswandel mit der Tatsache, dass vor allem junge Berufstätige vehement nach mehr Freiräumen im Job suchen. Diesen Forderungen scheinen Arbeitgeber noch nicht in ausreichendem Maße nachzukommen. Ob das Konzept der Work-Life-Integration diesbezüglich Abhilfe schaffen könnte?
Work-Life-Integration vs. Work-Life-Balance: Was ist der Unterschied?
Wie der Begriff Integration bereits andeutet, geht es bei der Definition von Work-Life-Integration darum, die Komponenten Arbeit und Freizeit miteinander zu verbinden und die beiden Lebensbereiche ineinander einzugliedern. Der Idee der Work-Life-Balance dagegen liegt eine strikte Trennung von Beruflichem und Privatem zugrunde. Arbeit ist Arbeit, Freizeit ist Freizeit.
Mit fortschreitender Digitalisierung verschwimmen diese traditionellen Grenzen jedoch zunehmend. Am Smartphone buchen wir den nächsten Familienurlaub, während wir im Büro auf den Beginn eines Meetings warten. Beim Fußballtraining der Kinder nutzen wir das Handy, um geschäftliche E-Mails zu beantworten. Abends auf dem Sofa studieren wir am Tablet noch schnell den neuen Geschäftsbericht.
Die in Work-Life-Balance-Modellen umschriebene eindeutige Unterscheidung in Berufs- und Privatleben ist heute kaum noch möglich und von vielen Beschäftigten auch gar nicht mehr gewünscht. Vor allem die Nachwuchstalente der Generation Z legen großen Wert auf Flexibilität bei der Gestaltung ihres Arbeitsalltags.
Wie Unternehmen von Work-Life-Integration profitieren
Wenn Firmen ihren Beschäftigten eine bessere Verbindung von Beruf und Freizeit ermöglichen, kann sich das in vielerlei Hinsicht auszahlen. Bereits beim Recruiting lässt sich das Konzept der Work-Life-Integration bewusst einsetzen, um bei Fachkräften für die eigene Arbeitgebermarke zu werben und sich im War for Talent von der Konkurrenz abzuheben. Neben jungen Bewerber*innen sind Arbeitsmodelle mit Work-Life-Integration vor allem für Eltern interessant, da sie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern.
Bei der bereits bestehenden Belegschaft kann das gesteigerte Maß an Selbstbestimmung durch eine Integration der verschiedenen Lebensbereiche zu mehr Zufriedenheit führen. Endlich lassen sich berufliche und private Verpflichtungen sinnvoll miteinander verknüpfen, wie beispielsweise ein Arzttermin mit einem Kundenbesuch in Praxisnähe. Falls die Mittagspause ab und zu etwas länger ausfällt oder der PC im Büro zum Surfen im Netz verwendet wird, ist das dank Work-Life-Integration nicht mehr zwingend mit Schuldgefühlen verbunden. Schließlich können eventuelle Versäumnisse nach Feierabend nachgeholt werden. Das entgegengebrachte Vertrauen und der hohe Grad an Eigenverantwortung bei der Gestaltung des Arbeitstages wirken in aller Regel motivierend auf die Belegschaft.
Eine gute Mitarbeitermoral wiederum kann die Leistungsbereitschaft der Beschäftigten und damit die Effizienz im gesamten Unternehmen verbessern. Darüber hinaus gewährleistet eine enge Verzahnung von Arbeits- und Privatleben die optimale Nutzung individueller Produktivitätsphasen. Ob schnelle Joggingrunde, um ein Kreativitätstief im Büro zu überwinden, oder nächtliche Homeoffice-Einheit nach einem inspirierenden Treffen mit Bekannten, all dies gehört wie selbstverständlich zur neuen Definition von Work-Life-Integration.
Erwerbstätige, die ihren Beruf als integralen Bestandteil ihres Lebens wahrnehmen, identifizieren sich zudem oft mehr mit ihren Arbeitgebern als Kolleg*innen, die Job und Freizeit strikt voneinander trennen. Das kann die Fluktuationsrate und mit ihr auch die Personalbeschaffungskosten verringern. Schließlich kündigen zufriedene Mitarbeitende seltener und spielen als Unternehmensbotschafter*innen eine wichtige Rolle beim Employer Branding.
Risiken der Work-Life-Integration
Trotz der vielen Vorteile kann die Einführung von Work-Life-Integration auch nachteilige Effekte haben. Jobsuchende, die weiterhin Wert auf eine strikte Abgrenzung von Beruf und Freizeit legen, werden sich eher bei traditionelleren Arbeitgebern bewerben. Eine Befragung des Instituts der deutschen Wirtschaft bestätigt, dass sich 2018 noch mehr als ein Viertel der Beschäftigten eine klare zeitliche und räumliche Trennung der beiden Lebensbereiche wünschten, während nur knapp sieben Prozent eine enge Verzahnung bevorzugten. Auch wenn im Zuge der Corona-Pandemie viele Erwerbstätige die Vorteile der Arbeit im Homeoffice zu schätzen lernten, möchten 64 Prozent nicht dauerhaft überwiegend von zu Hause arbeiten. Das zeigt eine Studie der Krankenkasse pronova BKK.
Denn im Homeoffice verwischen die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben besonders leicht. Meist wird mehr gearbeitet als vertraglich festgelegt. Laut DGB-Index Gute Arbeit leisten 29 Prozent der Beschäftigten im Homeoffice regelmäßig unbezahlte Überstunden. 39 Prozent sind auch außerhalb der normalen Arbeitszeiten für ihren Arbeitgeber erreichbar.
Doch auch außerhalb vom Homeoffice ist eine zunehmende Entgrenzung zu beobachten. Eine Studie der Stiftung für Zukunftsfragen belegt, dass inzwischen 22 Prozent aller Beschäftigten mindestens einmal pro Woche nach Feierabend noch etwas für die Arbeit erledigen. Vor Corona war dieser Anteil noch um zehn Prozent geringer. In der aktuellen Arbeitszeitbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sehen sich 23 Prozent der Befragten mit der Erwartung konfrontiert, auch im Privatleben für dienstliche Belange zur Verfügung zu stehen.
Das Gefühl ständiger Erreichbarkeit begünstigt Stress. Gemäß DGB-Index Gute Arbeit kann fast die Hälfte der Beschäftigten im Homeoffice in ihrer Freizeit nicht richtig abschalten. Dazu kommt häufig der eigene Leistungsdruck. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung arbeiten 50 Prozent der männlichen und 41 Prozent der weiblichen Angestellten mehr, als sie gerne würden. Gesundheitliche Folgen einer solchen Überarbeitung sind nicht ausgeschlossen. 2021 erreichte der Arbeitsausfall durch psychische Erkrankungen einen neuen Höchststand. Die Krankenkasse DAK verzeichnete 41 Prozent mehr Fälle als zehn Jahre zuvor.
Work-Life-Integration ist somit nicht für alle Beschäftigten die ultimative Lösung für mehr Arbeitsplatzzufriedenheit. Jeder Mensch hat andere Bedürfnisse. Damit die Freizeit nicht komplett „wegintegriert“ wird, ist ein hohes Maß an Selbstkontrolle nötig. Fehlt diese Fähigkeit, eignen sich traditionelle Work-Life-Balance-Modelle unter Umständen besser, um Mitarbeitende langfristig zu motivieren.
Work-Life-Integration im Unternehmen fördern
Die gute Nachricht: Bei der Umsetzung von Work-Life-Integration und Work-Life-Balance gibt es viele Überschneidungen. Indem Unternehmen die passenden Rahmenbedingungen liefern, können die Beschäftigten selbst entscheiden, ob sie Beruf und Freizeit lieber integrieren oder strikt voneinander trennen möchten. Mit den richtigen Maßnahmen sprechen Arbeitgeber somit Befürworter*innen beider Modelle gleichzeitig an.
Unternehmenskultur
Zunächst sollte ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Bedürfnisse in Bezug auf Work-Life-Integration vs. Work-Life-Balance geschaffen werden. Dann gilt es, traditionelle Denkmuster zu durchbrechen. Die Überzeugung, dass effektives Arbeiten acht Präsenzstunden pro Tag erfordert, sollte ergebnisorientierten Ansätzen und einer vertrauensvollen Arbeitsatmosphäre weichen.
Flexibilisierung der Arbeitszeiten
Flexible Arbeitszeiten sind für die Balance verschiedener Lebensbereiche ebenso Grundvoraussetzung wie für deren Integration. Um Mitarbeitenden diesbezüglichen Gestaltungsspielraum zu gewähren, eignen sich Modelle wie Teilzeit, Gleitzeit, Jobsharing, Arbeitszeitkonten oder Sabbaticals. Wichtig ist, dass die unterschiedlichen Zeitbedarfe der Belegschaft je nach der individuellen Lebenssituation Berücksichtigung finden.
Arbeitsortflexibilisierung
Ob hybrid oder Homeoffice, Remote-Work bietet trotz der bereits erwähnten Gefahren auch sehr gewichtige Vorteile. Eine großangelegte Cisco-Studie unter 28.000 Beschäftigten bestätigt, dass hybrides Arbeiten das Wohlbefinden und die berufliche Leistung von Mitarbeiter*innen auf der ganzen Welt deutlich verbessern konnte. Wegzeiten und typische Ablenkungen im Büroalltag fallen weg und machen Platz für höhere Produktivität.
Gesundheitsförderung
Wenn die Arbeit bei der Work-Life-Integration die Überhand gewinnt, steigt das Risiko stress- und krankheitsbedingter Arbeitsausfälle. Dem können Arbeitgeber mit gezielten Maßnahmen entgegenwirken, indem sie beispielsweise ein betriebliches Gesundheitsmanagement etablieren, ergonomische Arbeitsplätze einrichten und ihren Mitarbeitenden regelmäßig Bewegungsangebote machen.
Personalentwicklung
Hier geht es in erster Linie um Weiterbildungsangebote, die den Beschäftigten einen adäquaten Umgang mit den möglichen Belastungen der Work-Life-Integration ermöglichen. Denkbar sind regelmäßige Workshops zu Themen wie Zeit- und Selbstmanagement, Stressbewältigung oder Kommunikationstrainings.
Informations- und Kommunikationspolitik
Örtlich und zeitlich selbstbestimmtes Arbeiten und damit eine gelungene Work-Life-Integration sind an technische Voraussetzungen geknüpft. Alle Mitarbeitenden sollten über die nötigen Endgeräte zur Erfüllung ihrer Aufgaben verfügen und jederzeit uneingeschränkt auf relevante Informationen zugreifen können. Die Kommunikation darf weder an der räumlichen Distanz noch an technischen Hürden scheitern.
Die Work-Life-Balance hat noch nicht ausgedient
Die Digitalisierung spielt auf dem Weg in Richtung Work-Life-Integration eine wesentliche Rolle. Sie bietet zahlreiche Alternativen für eine individuelle Gestaltung des Arbeitsalltags. Welche Maßnahmen Unternehmen im Einzelfall implementieren möchten und können, hängt immer auch von der Branche ab. Die enge Verzahnung von Job und Freizeit ist schließlich nicht in allen Berufen uneingeschränkt möglich. Wer im ständigen Kundenkontakt steht oder Menschen betreut und pflegt, hat trotz modernster Technologien während der Arbeit kaum Zeit für Privates. Wenn eine Integration von Freizeit und Job jedoch grundsätzlich realisierbar scheint, kann sich eine Umsetzung positiv auf Zufriedenheit, Motivation und Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden auswirken.
Trotzdem hat das traditionelle Konzept der Work-Life-Balance noch nicht ausgedient. Attraktive Arbeitgeber schaffen die idealen Rahmenbedingungen für beide Modelle und überlassen die Entscheidung zwischen Integration und strikter Trennung von Berufs- und Privatleben ihren Mitarbeitenden.